3. Der Kompetenzkonflikt um die Hauptabteilung I

Die durch diese Reorganisation der Dienststelle Marburg entstandene Problematik des Verhältnisses zwischen zentraler Berliner SS-Stelle des RKFDV-Programms und dem "beauftragten" Gauleiter wird exemplarisch deutlich am Fall des Dr. CARSTANJEN (11). Dieser hatte sich in der Untersteiermark zunächst eine überragende Stellung verschafft.

"Für die Fragen des Menscheneinsatzes, die gemäß Auftrag des Hauptamtchefs bei dem Stabsleiter zusammengefaßt werden sollten, war zunächst Dr. CARSTANJEN eingesetzt, der zugleich den Ansiedlungsstab übernehmen sollte." (12)

Durch den neuen Organisationsplan waren die Funktionen Dr. CARSTANJENS im Rahmen der Dienststelle Marburg weitgehend erloschen. Er füngierte jetzt nur noch als kommissarischer Leiter des Nationalpolitischen Referats. Diese im Gau Steiermark mächtige Persönlichkeit war aber keineswegs gewillt, ihre Ambitionen aufzugeben. Nach anfänglicher Zurückhaltung entspann sich im August 1941 ein Dialog, der aufweist, mit welchen Mitteln und Methoden der Gauleiter durch die Person Dr. CARSTANJENS versuchte, "seine Leute" an maßgeblicher Position einzuschalten, und wie die SS darauf reagierte.

Die ständig wachsenden Aufgaben der Dienststelle machten es notwendig, daß Kompetenzen immer wieder abgegrenzt, neue Ämter geschaffen oder bestehende aus
gebaut werden mußten (13). Die Tatsache, daß die Hauptabteilung "Menschenführung" als eine der wichtigsten erst allmählich aufgebaut wurde, benutzte Dr. CARSTANJEN, um deren Kompetenzen gleichsam von innen her an sich zu reißen. Er besaß dazu eine günstige Ausgangsposition.

Nach dem Organisationsplan vom 17. Juni 1941 waren dem Stabsleiter als Hauptabteilungsleiter sieben Referate direkt unterstellt worden, darunter als wichtigste das "Nationalpolitische Referat" und das "Referat für Ansiedlung". Während aus dem "Referat für Ansiedlung" inzwischen eine Hauptabteilung hervorgegangen war - der SS-Ansiedlungsstab Südmark, dessen Leiter am 15. August in Marburg eingetroffen war - wurde das Nationalpolitische Referat, das mit Teilen der Referate 2, 3, 4, 5 und 7 zur "Hauptabteilung I: Menschenführung" ausgebaut werden sollte, noch kommissarisch von Dr. CARSTANJEN im Rahmen der RKFDV-Diensstelle Marburg geleitet. Dr. CARSTANJEN argumentierte aus seiner Sicht logisch zweifellos richtig, wenn er sich als "Nationalpolitischer Referent" des Gauleiters UIBERREITHER, der ja zum "Beauftragten des RKFDV" ernannt worden war, nun auch als Nationalpolitischer Referent des Beauftragten des RKFDV in der Steiermark bezeichnete. Der Stabsleiter erkannte Dr. CARSTANJENS Berechtigung an, die Dienststelle in nationalpolitischen Fragen zu beraten, zumal Dr. CARSTANJEN als hervorragender Kenner des annektierten Gebietes galt. In seinem Schreiben vom 23. August 1941 ging dieser aber einen bedeutenden Schritt über die vom Stabsführer konzedierte Grenze hinaus:

    "1. Der nationalpolitische Referent des Beauftragten des RKFDV übt seine Tätigkeit unmittelbar beim Leiter der     Dienststelle in Marburg a. d. Drau aus. Sein Arbeitsinstrument ist das Nationalpolitische Referat. Ihm obliegt die     nationalpolitische Beratung und Ausrichtung aller übrigen Abteilungen der Diensstelle.
    2. Die Hauptaufgabe des Referats ist die Lenkung der Neuverteilung von eingezogenen und beschlagnahmten     Besitzungen . .. nach nationalpolitischen Gesichtspunkten ... Das Referat ist dementsprechend sinnvoll in den     Aktengang einzuschalten.
    3. Das Referat fungiert weiter im Rahmen der Dienststelle als volkspolitische Planungsstelle für den gesamten     Menscheneinsatz in der Untersteiermark. Es erstellt die gesamten grundsätzlichen Pläne . . ." (14)

Typisch für das Vorgehen Dr. CARSTANJENS scheint zu sein, daß er vor der Fixierung seiner Ansprüche ein Gespräch mit dem vom Gauleiter eingesetzten Dienststellenleiter hatte, nicht aber mit dem vom Stabshauptamt (14a) eingesetzten Stabsführer; er lancierte auch jetzt seine Forderungen dem Dienstellenleiter, der jedoch den Stabsführer informierte und diesem die grundsätzliche Stellungnahme überließ, eine Tatsache, in der sich die realen Kompetenz- und Machtverhältnisse innerhalb der Marburger RKFDV-Dienststelle manifestieren.

Den Forderungen Dr. CARSTANJENS trat der SS-Stabsführer eine Woche später energisch entgegen:

"... Diese überspannten Forderungen lehne ich grundsätzlich ab. Im einzelnen nehme ich zu dem Schreiben wie folgt Stellung:

zu Punkt 1:
    Die nationalpolitische Beratung durch Pg. Dr. CARSTANJEN wird ohne weiteres anerkannt. Die Ausrichtung der     Mitarbeiter meiner unterstellten Abteilungen (Stabsführung, Hauptabteilung I und Ansiedlungsstab) behalte ich     mir allein vor. ...
zu Punkt 2:
    Die hier genannten Aufgaben fallen nicht dem nationalpolitischen Referenten zu. Die Verteilung und Lenkung der     Neuverteilung von . .. Besitzungen ist zunächst Angelegenheit der einzelnen Hauptabteilungen der hiesigen     Dienststelle, die über die Hauptabteilung I die volkspolitische Beurteilung einholen. ... Die in Absatz 2 aufgestellte     Forderung nach sinngemäßem Einschalten in den Aktengang stellt eine Kontrolle oder mindestens die Schaffung     einer solchen dar, mit anderen Worten: der nationalpolitische Referent erlaubt sich, der Dienststelle ein     Mißtrauensvotum auszustellen.
zu Punkt 3:
    Der nationalpolitische Referent kann von sich aus grundsätzlich Pläne für die Umsiedlung des Neuraumes der     Untersteiermark vorlegen. Diese Pläne können jedoch niemals bindend sein, vielmehr muß ihre Richtigkeit erst     festgestellt werden. Diese Feststellungen trifft der Dienststellenleiter oder der Stabsführer im Zusammenwirken     mit der Hauptabteilung I (15) und dem Ansiedlungsstab, .. ." (16)

Damit hatte der Stabsführer gegenüber den weitgehenden Ansprüchen Dr. CARSTANJENS die Grenzen abgesteckt:

zu 1)   eine unverbindliche "Beratung" durch den Nationalpolitischen Referenten will er hinnehmen, eine           "Ausrichtung" seiner Mitarbeiter lehnt er ab;
zu 2)   die in Punkt 2 vorgetragenen Forderungen weist der Stabsführer insgesamt zurück. Der Ton wird besonders           schroff im Kommentar zu Absatz 2, wahrscheinlich deshalb, weil der SS-Führer argwöhnt, der           Nationalpolitische Referent des Gaues versuche, ihn zu kontrollieren;
zu 3)   ähnliche Stellungnahme des Stabsführers wie zu Punkt 1: der Nationalpolitische Referent könne zwar Pläne           vorlegen, verbindlich seien diese aber nicht.

Der von Dr. CARSTANJEN vorgetragene Angriff auf die Bastion der SS-Volkstumspolitik in der Untersteiermark war sofort vom Stabsführer in seiner ganzen Gefährlichkeit erkannt worden.

Interessant wäre neben der Frage der Kompetenzen noch die dienstrechtliche Stellung des Nationalpolitischen Referenten gewesen; nur die hauptamtlichen Mitarbeiter des Referats sollten der Dienststelle inkorporiert werden; Dr. CARSTANJEN selbst aber beabsichtigte, seine Tätigkeit ehrenamtlich auszuüben, und zwar "unmittelbar beim Leiter der Dienststelle". Das hätte bedeuten können, daß Dr. CARSTANJEN infolge
seiner starken Stellung als Nationalpolitischer Referent des Gauleiters, als Gauhauptstellenleiter der VoMi und als Leiter des Südostdeutschen Instituts durch seine Position außerhalb des disziplinarischen Bereichs den Stabsführer der RKFDV-Dienststelle Marburg überspielt hätte. - Wie empfindlich der SS-Führer reagierte, das erhellt allein aus dem Ausdruck "Mißtrauensvotum", mit dem er die Forderung Dr. CARSTANJENS nach sinngemäßem Einschalten in den Aktengang interpretierte.

Der Stabsführer konnte auf Grund seiner Erkenntnis der Absichten Dr. CARSTANJENS diese Gefahr noch rechtzeitig bannen; denn gegen die massive Abwehr der SS vermochte auch der Exponent des Gauleiters trotz seiner starken Position in der Steiermark nicht aufzukommen. - Am 14. Oktober konnte Stabsleiter LAFORCE daher nach Berlin melden:

"Bei einheitlicher Abstimmung aller Beteiligten wurde festgelegt, daß der national-politische Referent der hiesigen Dienststelle als solcher nicht mehr amtiert und Pg. Dr. CARSTANJEN lediglich als nationalpolitischer Referent des Gauleiters der hiesigen Dienststelle zur Verfügung steht. Im übrigen ist anerkannt, daß für alle derartigen Fragen, die der nationalpolitische Referent innerhalb der hiesigen Dienststelle behandeln wollte, die Hauptabteilung I allein zuständig ist." (17)

Dr. CARSTANJEN war damit der Doppelfunktion, die er als Nationalpolitischer Referent des Gauleiters und der RKFDV-Dienststelle eingenommen hatte, enthoben worden.

Neben den Kompetenzstreitigkeiten war die RKFDV-Politik des Gauleiters in der Untersteiermark auch mit stimmungsmäßigen Momenten belastet, die durch eine wachsende Rivalität zwischen zentralistischem Machtanspruch der SS und partikularistischer Tendenz des Gauleiters entstanden (18).

"Selbstverständlich muß man ständig auf der Hut sein und aufpassen, daß hierbei nicht Gauinteressen eine Rolle spielen, sondern daß die Befehle des Reichsführers-SS strikte durchgeführt werden." (19)

"Jeder Versuch, die Tätigkeit des Beauftragten [gemeint ist: Die Tätigkeit der Dienststelle des Beauftragten des RKFDV] zu erschweren bzw. zu boykottieren, ist mit allen dem Reichsführer-SS zur Verfügung stehenden Mitteln zurückzuweisen." (20)

Die SS-Führer waren also strengstens gehalten, gegenüber Gauinstanzen ständig in kritischer Distanz wachsam zu sein und - vor allem - Befehlen übergeordneter SS-Stellen konsequent Folge zu leisten. Die dem SS-Elitedenken entspringende militante Haltung manifestiert sich besonders in der Äußerung des Ansiedlungsstabsleiters, die jegliches Bewußtsein von Kollegialität gegenüber dem engsten Mitarbeiter des Gauleiters vermissen läßt.

Dieses Beispiel veranschaulicht, daß nicht Kompetenzen an sich, sondern die Möglichkeit, Kompetenzbereiche mit Hilfe realer Machtmittel auszufüllen, erst den Primat der politischen Exekutive im NS-System ausmachten.

Das ständige Anschwellen der durch die RKFDV-Politik anfallenden Aufgaben hatte einen immer stärkeren Ausbau der RKFDV-Dienststelle zur Folge. Hierbei entstand im Referat "Nationalpolitische Fragen" ein personelles Vakuum. Daher versuchte Dr. CARSTANJEN - als Nationalpolitischer Referent kommissarisch mit der Leitung des "Nationalpolitischen Referats" im Rahmen der RKFDV-Dienststelle betraut - durch die Ausweitung seiner Kompetenzen bestimmend auf die RKFDV-Intentionen der SS einzuwirken. Es kann die Hypothese gewagt werden, daß dadurch Dr. CARSTANJEN zweifellos zum "Spiritus rector" der RKFDV-Politik in der Untersteiermark geworden wäre, der die Leitlinien der Volkstumspolitik nicht nur geplant, sondern auch mit Hilfe des Gauleiters deren Realisierung weitgehend in der Hand gehabt hätte. Durch die Aufmerksamkeit des Stabsführers konnte diese Gefahr für die SS gebannt werden.

Das Problem, die zentralistischen SS-Interessen gegenüber den regionalen Gau-Interessen zu behaupten, war für die RKFDV-Politik immer wieder akut. Bei der Marburger Dienststelle wurde es vor allem dadurch gelöst, daß die Führungsaufgaben, die in der Position des Stabsführers, im Hauptamt I und im Ansiedlungsstab konzentriert waren, treuen SS-Leuten vorbehalten und Versuche des Eindringens in die Spitze dieser Kompetenzhierarchie vereitelt wurden. Die Art der Argumentation und die der eingesetzten Mittel weisen typische Züge der SS-Mentalität auf: absolute Ausrichtung auf SS-Befehle und Mangel an Kompromißbereitschaft bei der Zusammenarbeit mit dem Gau.

Damit hatte diese Auseinandersetzung um grundsätzliche Kompetenzfragen der Volkstumspolitik in der Untersteiermark ihr Ende gefunden. Ungeachtet dieser Tatsache sollte es in der Folgezeit oft in wichtigen Detailfragen, die die Ansiedlung der Gottscheer betrafen, zu Komplikationen kommen, da sich der Gauleiter mit dem Einbruch des RKFDV in seinen Machtbereich nicht abfinden wollte.

Das zeigte sich besonders bei der Arbeit des SS-Ansiedlungsstabes Südmark, der im Rahmen der RKFDV-Dienststelle Marburg - dem Stabsleiter direkt unterstehend - als Hauptabteilung die eigentliche Leitstelle für die Ansiedlung der Gottscheer unter anderem deshalb war, weil das von den Slowenen zu räumende Gebiet zunächst neu verplant und danach erst die Gottscheer entsprechend in ihre Höfe "eingewiesen" werden konnten.

Der Stabsstelle des RKFDV war es bereits Mitte Juni 1941 mit der Reorganisation der Dienststelle in Marburg und dem Dienstantritt des dortigen Stabsleiters gelungen, die Grundlage für eine ordnungsmäßige Ansiedlung der Gottscheer zu schaffen.

Die Umsiedlung der Gottscheer Deutschen, Hans Hermann Frensing, 1970

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Anmerkungen :

11   Zur Beurteilung der Rolle Dr. CARSTANJENS: Niederschrift Dr. STIER, Antwort 4: "Grundsätzlich ist zu sagen, daß die Haltung des Gauleiters ... bei völkischen Fragen durch seinen Mitarbeiter Dr. CARSTANJEN bestimmt war."

12  
Vermerk von Dr. STIER vom 17. 6. 1941 ...; Handakte Dr. STIER.

13  
Lagebericht der Dienststelle des Beauftragten des RKFDV-Marburg .. . vom 14. 4. 41 bis 1. 10. 41; im Besitz d. Verfassers. ". . . Die Geschäfte der Dienststelle übernahm am 14. April 1941 der Dienststellenleiter, Pg. SEFTSCHNIGG, mit insgesamt 7 Mitarbeitern .. . Von Monat zu Monat erhöhte sich die Zahl der Mitarbeiter: Im Monat April um 25, im Monat Oktober um 23.
insgesamt: 262 Mitarbeiter.

Außerdem sind bei der Dienststelle mit den Außenstellen noch rund 130 Tagegeldempfänger und 10 Kriegsdiensthilfsverpflichtete beschäftigt, so daß sich ein Mitarbeiterstand von insgesamt 402 Personen ... ergibt." (Kursivdruck im Original unterstrichen.)


14  
Schreiben Dr. CARSTANJENS vom 23. 8. 41 an den Beauftragten des RKFDV SA-Standartenführer SEFTSCHNIGG (Leiter der RKF-Dienststelle Marburg) (Abschrift); i. Bes. d. Verf.

14a  Die RKFDV-Stabsstelle wurde Mitte Juni unter der neuen Bezeichnung "Stabshauptamt" zum Hauptamt der SS erhoben.

15
 s. Lagebericht vom 14. 4. 41 bis 1. 10. 41; a.a.O. Ende August 1941 war die Stelle des Leiters der Hauptabteilung I noch vakant; daher bemühte sich das Stabshauptamt sofort, den Posten zu besetzen. Bereits am 3. 9. 41 trat SS-Hauptsturmführer BRANDT seinen Dienst an.

16  
Schreiben des Stabsführers vom 30. 8. 1941 an Pg SEFTSCHNIGG, Leiter der Dienststelle des Beauftragten des Reichsführers-SS ... (Abschrift); i. Bes. d. Verf.

17
 Schreiben des Stabsführers vom 14. 10. 1941 an den Reichsführer-SS, RKFDV; im Besitz d. Verfassers.

18
 dazu: Auseinandersetzung des Gauleiters von Ostpreußen, KOCH, und des Gauleiters von Danzig-Westpreußen, FORSTER, mit HIMMLER; s. R. L. KOEHL, a.a.O. S. 29.

19
 Schreiben des Leiters der Hauptabteilung I vom 4. 12. 41 an den Stabsführer, Betr.: Angelegenheit des nationalpolitischen Referenten; (Abschrift); im Besitz d. Verfassers.

20
 Stellungnahme des Leiters des Ansiedlungsstabes vom 29. 8. 1941, gerichtet an den Stabsführer, Betr.: Aufgabenbereich des nationalpolitischen Referenten (Abschrift); im Besitz d. Verfassers.

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